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Vicky Baum: Vor Rehen wird gewarnt

Eine herrlich böse Geschichte: Eine Frau weiß, was sie will und schreckt vor keinem Mittel zurück, um an ihr Ziel zu gelangen.



Dabei scheint Ann Ambros kein Wässerchen trüben zu können. Die etwas zerbrechlich wirkende, bezaubernde alte Dame ist die Liebenswürdigkeit in Person. Jedenfalls lernt man sie am Anfang des Romans so kennen. 


Denn so fängt die Geschichte an: Ann Ambros und ihre Tochter Joy besteigen einen Zug. Es ist die Zeit, da die Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg nach Amerika zurückkehren. Viele junge Männer tragen Verbände oder sind anderweitig verletzt. Schnell trifft Mrs Ambros ein paar Herren, die ihr bereitwillig bei allem helfen, die sie durch den übervollen Zug lotsen, ihr einen Sitzplatz verschaffen und ihr möglichst allen Unbill vom Leibe halten. Sie kokettiert mit ihrem Alter und ihrer Hilflosigkeit, sie bedankt sich stets anmutig bei allen, verweist dabei auf ihr altes dummes Herz, ist sich dabei aber jederzeit ihrer Wirkung auf die Umgebung bewusst. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, hält Joy sich im Hintergrund. Sie wirkt mürrisch, ein wenig grob, nicht eben charmant, eher grau und unauffällig. 


Nein, die beiden Frauen scheinen so gar nichts miteinander gemein zu haben. Zwischen den Zeilen spürt man sofort jede Menge Spannung und eine nur mühsam unterdrückte Feindseligkeit.


Und dann kommt es im Laufe der Zugfahrt zwischen Mutter und Tochter zu einer folgenschweren Auseinandersetzung, die es notwendig macht, die Polizei einzuschalten.


Ab hier wird die Geschichte und der Werdegang von Ann Ambros in Rückblenden erzählt. Es ist eine furiose Geschichte von Aufstieg und Niedergang, von Kriegen und Erdbeben, von Wien und San Francisco, von Opernbällen und Theateraufführungen, von einer Familie, die alles dransetzt, zur High Society zu gehören. Eine Geschichte von großer Liebe und bitteren Enttäuschungen, von Intrigen, bösen Gedanken und wilder Rache.


Atemlos verfolgen wir, wie ein zartes, auffallend schönes Mädchen Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Reifrock und Mieder sich ihr Umfeld durch immer größer angelegte Manipulationen untertan macht. Wie sie bis ins hohe Alter hinein nicht aufhört, die Menschen um sich herum zu benutzen. Wie sie bis zum Äußersten geht, um ihre Interessen durchzusetzen und ihre Ziele zu erreichen. Das ist spannend wie ein Krimi und verblüffend zugleich. Und sie hat viele Ziele.


Vicky Baum, die eigentlich Hedwig Baum heißt, hat diesen Roman 1951 veröffentlicht, zu diesem Zeitpunkt hat sie schon lange in Amerika gelebt und ihre Bücher in englischer Sprache verfasst. Ursprünglich stammt Vicky Baum aus Deutschland und war bereits eine renommierte Autorin der Weimarer Republik, bevor sie 1931 ins Exil ging. 


„Vor Rehen wird gewarnt“ ist ein groß angelegtes Psychodrama, erstklassig und fein ziseliert erzählt. Gleichzeitig ist es auch eine Satire. Mit Witz und beißendem Spott macht sich die Erzählerin über Dummheit, falsche Etikette, die Selbstverliebtheit von Emporkömmlingen und jede Menge anderer gesellschaftlicher Phänomene lustig. 


Hach, was für eine vergnügliche und fiese Geschichte! Es ist, als würfen Jane Austens böse Töchter alle moralische Bedenken über Bord und machten gemeinsame Sache mit Mr. Ripley. Großer Lesespaß!


Ich werde mich in Zukunft also unbedingt in Acht nehmen, sowohl vor Rehen, als auch vor zerbrechlichen, alten Damen, denn das scheint mir ausgemacht: Die sind beide hochgefährlich.



Vicky Baum: Vor Rehen wird gewarnt

Aus dem Englischen von Carl Heinz Ostertag (Irrtum vorbehalten)

Lert & Lert 1951 

Arche Verlag 2020, 410 Seiten

Alternativ: Büchergilde Gutenberg 2020, 410 Seiten

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