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Percival Everett: Erschütterung

Eine Familie, ein Abgrund, ein Vater flieht



Zach Wells nimmt uns mit zu seinen Exkursionen: Er ist Paläobiologe und erforscht anhand alter Knochen in Höhlen das Vorkommen früherer Vögel in der Gegend. Er lehrt an der Universität, seine Frau hat es als Dichterin zu einiger Bekanntheit gebracht. Die Ehe ist stabil, ohne nennenswerten Höhepunkte und wird in erster Linie durch die Liebe der beiden zu der gemeinsamen Tochter zusammengehalten.


Die zwölfjährige Sarah und ihr Vater sind ein eingespieltes Team, da wird geneckt und gefrotzelt was das Zeug hält, sie sind beide Meister im Florettfechten mit Worten und dabei amüsieren sie sich königlich. Wie gerne wäre man Teil ihres Gelächters. Außerdem spielen sie miteinander Schach, und in diesem Spiel hat die Tochter den Vater längst überflügelt. Der Mann, der sich in seiner selbstironischen Abgeklärtheit eingerichtet hat, wird in Anwesenheit seiner Tochter wachsweich.


Doch dann übersieht Sarah an einem Tag wie jedem anderen einen Läufer auf dem Schachbrett. Was wie ein lässliches Versehen daherkommt, ist der Anfang der im Titel schon vorweggenommenen Erschütterung, die sich immer weiter ausbreitet. Und der Vater flieht.


Dieses Buch kommt ganz ohne Pathos und Superlative aus, das ist umso erstaunlicher, als es sich um eine Geschichte handelt, in der eine ganze Welt implodiert. Die Erschütterung breitet sich langsam aus, wie in Zeitlupe, wie Moos, das sich an Steinen festkrallt. Erst wenn der Schock nachlässt, kommt der Schmerz an die Oberfläche. 


Man kann übrigens versuchen, das Schachspiel nachzuvollziehen, das Vater und Tochter miteinander bis zu dem Moment gespielt haben, wo er ihren Springer schlägt mit dem Läufer, den sie übersehen hat. Es ist der Moment, der die Wende einläutet. 


Die Spielzüge sind zwischen den Textpassagen einmontiert. Ebenso wie die kryptischen Aufzählungen der gefundenen Knochen in den Höhlen. Später sind noch Auflistungen zwischen den Passagen eingestreut, wie in „Ich packe meinen Koffer“. Wer ganz aufmerksam liest, findet inmitten all der Kürzel und Listen und Buchstaben und Zahlen auch die Chiffre einer Genmutation. Und die hat wirklich was zu bedeuten.


Nach der Diagnose ist die Welt eine andere. Zach Wells, der Vater, der Vater bleiben möchte, begibt sich auf eine Reise bis hin zur brütenden Sonne Mexikos. Der Roadtrip, der in eine Krimihandlung mündet, die so holprig ist, wie die Straße, auf der er mit einem klapprigen Schulbus fährt, könnte so von den Coen-Brüdern verfilmt worden sein.


„Ich war hier, um jemanden zu retten. Irgendwen. Ich brauchte das.“


In dem ganzen Roman spürt man stets das große Fragezeichen, die Frage nach dem Woher und Wohin. Gott ist entweder eine Schlange oder ein Bär oder wahrscheinlich einfach gar nicht vorhanden. Aber das Gute existiert. Genau wie das Schlimme. Ob das aber tröstlich ist, weiß niemand zu sagen. Und es kann sein, dass man sich selbst rettet, indem man andere rettet. Das wäre eine gute Sache.


Ein unfassbares Buch, bei dem ich erst auf Seite 250 gemerkt habe, wie sehr es mich auf ganz vielen Ebenen die ganze Zeit schon aufgewühlt hat. Seit ich das Buch zu Ende gelesen habe, geistere ich durchs Haus, den Roman immer bei mir, und lese querbeet Textpassagen wie eine Süchtige, weil ich mich partout nicht verabschieden will. Die Erschütterung bleibt für Tage.



Percival Everett: Erschütterung

Übersetzung aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Hanser Verlag 2022, 285 Seiten

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